Aller guten Dinge sind drei. Das erste Mal war zu spontan, beim zweiten Mal hat der wirkliche Wille gefehlt. Der dritte Versuch sollte also erfolgreich sein. Das Südtirol Ultraskyrace ringt einem schon beim Durchlesen der Ausschreibung Respekt ab. Start am Freitag um 22:00 Uhr vom Bozener Waltherplatz, 121 km, 7.554 Höhenmeter. Die Strecke folgt zu weiten Teilen der als Hufeisentour bekannten Wanderroute. Obwohl wesentlich kürzer werden für diese Tour 7 Tage veranschlagt…
Gemeinsam mit Geri fuhr ich nach einer Mittagssiesta nach Bozen. Unser Plan war, gemütlich einen Parkplatz in der Nähe des Zielbereiches zu suchen und ohne Hektik die Startnummer abzuholen. Jeder würde einen Autoschlüssel im Zielgepäck haben und wir würden dann nach dem Rennen im Kofferraum schlafen können. Pastaparty und Briefing lenkten uns noch etwas ab, dann fing die Spannung an zu knistern. Wir trafen Raphael Dörner, den dritten Schwazer am Start. Der Waltherplatz füllte sich mit Zuschauern, die Athleten den Startbereich. Nach Abspielen der „Starthymne“ The Extasy of Gold von Ennio Morricone fiel der Startschuss. Wie nicht anders zu erwarten stürmten alle los, als ob das Rennen nach zwei Kilometern zu Ende wäre.
Alleine der erste Abschnitt bis zum Rittner Horn (19 km, 2.080 hm↑, 81 hm↓) wäre für sich allein ein ziemlich anspruchsvoller Berglauf. Tatsächlich geht es hier erst los. Bei finsterer Nacht über die Sarner Scharte (2.460 m) bis zum Totenkirchl (2.186 m) zu laufen ist vorsichtig ausgedrückt anspruchsvoll. Die 11 km mit 842 hm↑, 703 hm↓ waren schön aber langsam. Geri erlebte seine erste Krise, Raphael, der vor uns lag, stieg aus dem Rennen aus.
Langsam wurde es hell, der nächste Streckenabschnitt (9 km, 131 hm↑, 201 hm↓) war sogar zum Laufen. Am Latzfonser Kreuz (2.311 m) genossen wir Tee und Suppe. Anschließend weiter via Tellerjoch zur Flaggerschartenhütte (2.481 m). Elendig lang zieht sich der Steig über 11km, 695 hm↑, 412 hm↓ dahin. Geri ging es wie mir in den letzten Jahren: Man glaubt nach jeder Kurve, dass man da ist, dass es eigentlich ja gar nicht mehr weit sein kann, und wird eines besseren belehrt. Heute fühlte ich mich überhaupt nicht müde. Nach kurzer Rast starteten wir gleich wieder Richtung Penser Joch (9 km, 499 hm↑, 720 hm↓).
Nach 13 Stunden 20 Minuten angekommen. Halbzeit! Patricia war uns ein paar Meter entgegengekommen. Durch die Straßenanbindung waren auch einige Schaulustige da. Ich ließ mir die Beine massieren und wechselte die Schuhe. Geri hatte einen kurzen Hänger, aber schon bald brachen wir gemeinsam auf. Das Gerölljoch (2.557 m) wird seinem Namen gerecht. Die nächste Zeitmessung (13km, 712 hm↑, 1.198 hm↓) befindet sich ein Stück vor der Ebenbergalm (1.780 m), auf der es dafür eine Labestation mit Speckjause gibt. Wir überholen hier ein paar Läufer.
Aus dem Tal mussten wir nun ca. 1.000 hm hinauf zu einer Scharte, dem Alpler Nieder. Es folgte eine flache Passage, nämlich eine weglose Traverse durch einen ca. 50° steilen Grashang. Bei Regen müsste ich nicht unbedingt da rüber. Über einen Grat führte die Strecke mit herrlichem Tiefenblick weiter am 80 km Schild vorbei zum Grünangerjoch. Geri war nicht mehr zum Scherzen zumute:
Im Abstieg begann es zu schütten. Nach schmerzhaften zwei oder drei Kilometern (gefühlt mindestens das Doppelte) erreichten wir die Hirzerhütte (1.983 m). Das Rennen war wegen der starken Regenfälle unterbrochen. Zu Recht. Die warme Hütte war nach den anstrengenden 11 km, 1.065 hm↑, 801 hm↓ allerdings nicht gerade günstig für Geri. Der Entschluss auszusteigen war schon in den letzten Stunden in ihm gereift, hier konnte er nicht mehr anders. Für mich stellte sich die Frage nicht, ich fühlte mich gut und wollte es wissen. Der Anstieg zur Oberen Scharte schreckte mich nicht. Nach ungefähr einer Stunde wurde das Rennen wieder freigegeben. Erstaunlich welche Reserven man mobilisieren kann.
Die letzten Meter zur Scharte führen über einen Felsriegel, der über Bänder mit ein bisschen Einheben gut überwindbar ist. Akkurat beim Einstieg in diese Passage fing es wieder an zu regnen und zu graupeln. Innerhalb von Minuten war der Fels weiß vor Graupeln wie wenn Styroporkugeln dalägen. Als es auch noch zu blitzen und zu donnern begann, wussten wir, dass wir beim Abstieg trotz Seilversicherung – oder auch gerade deswegen – nicht zu trödeln brauchten. Ich hatte die schwierigsten Passagen gerade hinter mir, als das Hochwetter so richtig einsetzte. Der Steig verwandelte sich in einen Bach. Mein bäriges Salomon Regenoutfit klebte mir nass am Körper. Zusätzlich wurde es schlagartig dunkel. Ich dachte an Karl Valentin, der sagte: „Ich freu‘ mich, wenn es regnet. Denn wenn ich es nicht tu, regnet es auch!“ und versuchte so schnell wie möglich abwärts zu kommen.
Ich dachte, bis zur Meraner Hütte (1.960 m) seien es „nur“ neun Kilometer, tatsächlich waren es 13 km, 1.120 hm↑, 1.199 hm↓. Nach zwei Stunden ließ der Regen etwas nach. Stehenbleiben spielte sich nicht, da man unverzüglich auskühlte. Also weiter, weiter, weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte endlich die Labestation aus der Dunkelheit auf. Wie schon vorher, war die erste Frage: „Du gibst auf, oder?“, welche ich zum wiederholten Mal verwundert mit den Worten: „Warum sollte ich sowas tun? beantwortete. Erst später wurde mir klar, dass die Fragenden Mitarbeiter der EURAC-Studie waren, an der ich teilnahm. Diese hatten den Auftrag, von ausscheidenden Läufern so schnell als möglich Blut abzunehmen. Nach einer kurzen Aufwärmphase im Lager ging es weiter. Mir war klar: „Die letzten 25 Kilometer schaffe ich auch noch. Und wenn ich kriechen muss!“
Müdigkeit war für mich noch immer kein Thema, dafür wurden die Halluzinationen stärker. Schatten wurden zu Menschen, Steine zu Tieren. Zeitweise dachte ich, dass jemand neben mir läuft, es war aber keiner da. 8,2 km, 371 hm↑, 415 hm↓ bis zum Möltner Kaser (1.806 m), 11,8 km, 39 hm↑, 910 hm↓ bis Jenesien (1.089 m). Mein GPS zeigte anstatt der erwarteten zwanzig mehr als fünfundzwanzig Kilometer an. Möglicherweise bin ich einmal im Kreis gegangen. Mir ist es so vorgekommen, als ob ich manche Stelle der Strecke schon gesehen hätte. In Jenesien erfuhr ich, dass es nun ja nicht mehr weit sei. Allerdings ginge es steil bergab. Einmal noch den Akku der Lampe wechseln. Meine aufgeweichten Füsse taten an den Sohlen weh. Steinige, schottrige Passagen – und davon gab es einige – konnte ich nicht mehr laufen. Das Durchdrücken der Stollen beim Auftreten schmerzte zu sehr. Das Ziel im Auge hielt mich dies aber nicht davon ab, den letzten flachen Kilometer noch einmal anzuziehen und zu laufen. Sogar ein – wenn auch bescheidener – Schlussspurt war drinnen.
Das Überschreiten der Ziellinie war erlösend. Obwohl fünf Uhr früh, waren die Anwesenden freundlich und empfingen mich mit Applaus und Anerkennung. Von 161 Startern erreichten immerhin 49 LäuferInnen das Ziel. Das ist eine Ausfallsquote fast 70 Prozent. Meine Zeit: 31:06:45,3