Vor zehn, vielleicht auch schon vor fünfzehn Jahren habe ich zufällig auf Eurosport einen Bericht über Marathon des Sables gesehen. In 6 Etappen (34 km, 41 km, 37,5 km, 82 km, 42,2 km, 7,7 km) geht es jedes Jahr Anfang April rund 250 km quer durch die Sahara im Süden Marokkos. Die Läufer müssen ihre gesamte Ausrüstung mit sich tragen. Das bedeutet: Schlafsack, Ersatzkleidung, Verpflegung, Kochgeschirr und was man sonst noch braucht, wird von jedem Teilnehmer selbst transportiert. Der Rucksack wiegt am Start 11-15 kg. Pro Tag werden zwölf Liter Wasser an Verpflegungsstellen entlang der Strecke und im Bivouac (Zeltlager) bereitgestellt, übernachtet wird in Berberzelten, deren Qualität an Kartoffelsäcke erinnert. Die Temperaturen in der Wüste betragen nachts 5 bis zu 10°C, während sie tagsüber an die 50 °C im Schatten erreichen. Ungünstigerweise läuft man nicht im Schatten. Der Veranstalter empfiehlt den Teilnehmern, größere Schuhe zu verwenden. Die Füße können durch die Hitze und bedingt durch die Distanz ordentlich anschwellen. Blasen an den Füßen, aufgescheuerte Schultern lassen sich kaum vermeiden und gehören dazu. Nicht alle Menschen bei geistiger Gesundheit würden an so einem Rennen teilnehmen. Trotzdem werden jährlich Menschen aus der ganzen Welt angelockt, die ein unvergleichbares Erlebnis suchen.
Irgendwann im Herbst 2012 beschloss ich für mich selber, dass es nun an der Zeit wäre. Eine Teilnahme 2013 kam für mich wegen der Geburt meiner zweiten Tochter nicht in Frage, also meldete ich mich für 2014 an.
Es ist schwierig, die Fülle an Eindrücken und die Strapazen in Worte zu fassen. Wer schon einmal probiert hat, im Urlaub längere Zeit am weichen Sandstrand in der prallen Sonne der Mittagshitze zu laufen, kann vielleicht erahnen, wie sich ein Wüstenlauf anfühlt. Rund ein Drittel der Strecke führen über Sanddünen, die bis zu 400 Meter aus der Ebene herausragen. Ein weiteres Drittel der Strecke ist von der Beschaffenheit mit einem ausgetrockneten Flussbett vergleichbar. Wenn der Inn im Winter wenig Wasser führt, eignet er sich hervorragend als Trainingsgelände. Die restlichen 80 Kilometer bestehen aus Sand mit Steinen drauf.
Am Start waren 1.027 Teilnehmer aus 45 Nationen, darunter 4 Österreicher. Wir teilten uns mit einem Deutschen ein Zelt. Im Verlauf der Woche entwickelte sich eine tiefe Kameradschaft. Das tägliche stundenlange Laufen ist so anstrengend, dass jedem Menschen die Kraft fehlt, sich zu verstellen. Ich kann mir keinen Ort vorstellen, wo man ehrlicher miteinander umgeht.
Am 4. Tag ist die Königsetappe angesagt. Drei Tage habe ich in der sengenden Hölle überlebt und fühle mich wie ein Wüstenkrieger. Heute steht die lange Etappe am Programm: 82 km in härtestem Gelände. Ich bin dabei herauszufinden, warum der Marathon des Sables als „toughest footrace on earth“ bezeichnet wird. Versuchen Sie sich vorzustellen, dass Sie 82 km an einem normalen Tag laufen. Nun stellen Sie sich vor, 82 km durch die Wüste zu laufen, nachdem Sie in den letzten drei Tagen 100 km gerannt sind.
Meine Beine sind steif, die Schultern unterm Rucksack wund. Meine Zehen schauen aus wie geplatzte Würstel, die Fußsohlen sind von Blasen übersäht. Der omnipräsente Sand arbeitet auf meiner Haut wie eine Käsereibe. Es ist nicht die ideale körperliche Verfassung, eine solche Distanz in Angriff zu nehmen. Ich stehe wenige Meter vor der Startlinie. Laut wummert AC/DCs Highway to Hell aus den Boxen, am Horizont schwebt der Helikopter. Die Atmosphäre ist elektrisiert, das Adrenalin greifbar, alle wünschen sich Glück.
Es beginnt der Countdown: „Cinq! Quatre! Trois! Deux! Un!“ Es geht los. Geröllhalde, Berg mit Sand, Abstieg, endlose Ebene, Dünen. Ich versuche da zu laufen, wo noch niemand lief, hier trägt der Sand am besten, versinken die Füße nicht so tief im Sand. Vor mir wie an einer Perlenkette aufgereiht die vorderen Läufer. Hinter mir das gleiche Spiel. In einer Entfernung von vielleicht 300 Metern verschwimmt der Boden in der flimmernden Hitze mit dem Himmel. Auf einem ausgetrockneten Salzsee bekomme ich Angst. Mein Urin hat die Farbe von Himbeersaft, das ist eindeutig ein Anzeichen von Dehydration! Sobald die Außentemperatur die des Körpers übersteigt, funktioniert die Kühlung nur noch übers Schwitzen. Man trinkt hier zwar täglich an die elf Liter Wasser, ist aber nie nass. Dafür ist es zu heiß. Kritisch wird die Situation, wenn das Schwitzen nicht mehr funktioniert. Habe ich etwa zu wenig getrunken? Noch liegen fast 50 km vor mir. Das wird ein ganz langer Tag.
Bei Kilometer 40 wird meine Gruppe vom Führenden überholt. Dieser ist erst 3 Stunden nach uns gestartet. Ungläubig beobachten wir die Leichtfüßigkeit, mit welcher der Jordanier in Höchstgeschwindigkeit über den tiefen Sand zu schweben scheint.
Checkpoint 4 bei km 45,3 kommt in Sicht. Endlich wieder Wasser fassen. Viele Läufer machen hier Pause. Wir sind mittlerweile fast 8 Stunden unterwegs. Ich beschließe gleich weiterzulaufen. Langsam aber sicher fordert die Strecke ihren Tribut. Ich merke, dass mein Körper nachlässt. Ich habe Angst, dass ich, wenn ich mich niedersetze, nur mehr mit größter Überwindung weiter komme. Außerdem wird es langsam dunkel. Daher beschließe ich, Checkpoint 5 (58,1 km) schnell zu verlassen und mich bis Checkpoint 6 (69,7 km) weiterzukämpfen. Vielleicht hätte ich doch besser eine Pause gemacht. Bei Kilometer 65 trifft mich der Hammer. Meine Beine fühlen sich an wie Kaugummi, mir ist schlecht und ich gehe am Zahnfleisch. Es beginnen mich Leute zu überholen. Ich schleppe mich bis zum Checkpoint und lass mich in ein Zelt fallen. Schüttelfrost quält mich bei einer Außentemperatur von über 30 Grad. Ich versuche, etwas zu essen und liege bibbernd am Boden. Drei Stunden vergehen, bis der Schwächeanfall vorübergeht.
Die letzten 12 Kilometer sind höllisch. Laufen ist mir nicht mehr möglich, also schleppe ich mich durch die Nacht. In einer Mischung aus Englisch und gebrochenem Französisch unterhalte ich mich mit einem Belgier. Wie wahr ist das Sprichwort: Jeder Idiot kann einen Marathon laufen, aber es braucht eine spezielle Sorte Idiot für einen Ultramarathon. Das Erreichen des Ziels ist eine Erlösung. Die Tasse Tee schmeckt wie Ambrosia. Die Erleichterung ist so groß, dass uns Tränen in den Augen stehen. Oh ja, ich beginne zu verstehen, warum der Marathon des Sables als härtestes Rennen der Welt bezeichnet wird.
Daheim wurde ich oft gefragt, warum ich mir so etwas antue. In der Hitze der Sahara stellte diese Frage niemand. Wahrscheinlich ist der Grund die reine Abenteuerlust. Wenn man am Gipfel des Großglockner einen Bergsteiger fragt, warum er sich so etwas antut, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit keinen besonderen Grund haben. Ich vermute, einen solchen brauchen nur die Daheimgebliebenen. Für mich war der Marathon des Sables mit Abstand das anstrengendste, aufwendigste Erlebnis. Noch nie habe ich mehr gelitten. Ich habe jede Minute genossen.
(jalas, jalas)